Eine Welt ohne Männer

oder:
Passiert Evolution heute noch?

1997 wunderte sich ein deutscher Aquarianer sehr: er hatte in seinem Becken einen einzelnen Marmorkrebs (Procambarus fallax), oder besser eine Krebsin, die plötzlich anfing, sich zu vermehren. Aus den Eiern entwickeln sich nach drei bis sechs Wochen rund 120 Jungtiere. Das war anfangs schön, wurde aber lästig, als sie damit nicht aufhörte. Schließlich hat er wohl die „Überschüsse“, die er nicht verkaufen oder verschenken konnte, in einem Bach oder See entsorgt. Auch dort vermehrte sich die Krebsin massenhaft. Sie wurde zu einer neuen, invasiven Art (Neozoon) die die regionale Artenvielfalt bedroht. (Ein sehr drastisches Beispiel dazu hatten wir bereits in dem Beitrag zur Bedrohung der Albatrosse durch invasive Mäuse.)
Durch eine Genommutation war die Krebsin parthenogenetisch geworden: sie konnte durch „Jungfernzeugung“ ohne Männchen Eier produzieren, aus denen sich gesunde Weibchen entwickelten, die das auch konnten.

A Normale Entwicklung von Keimzellen
Die Vorläufern von Keimzellen haben bereits von jedem Chromosom vier Kopien (vier „Chromatide“).
Vereinfacht sind nur die vier Kopien eines einzigen Chromosoms gezeigt.
Durch zwei Reifeteilungen entstehen daraus vier reife Spermien oder Eizellen
mit jeweils einem Chromatid (Chromosom).
Nach der Befruchtung entsteht eine befruchtete Eizelle (Zygote) mit dem normalen doppelten
Chromosomensatz (ein Chromosom vom Vater, eines von der Mutter).
B Was vermutlich beim Marmorkrebs geschah
In der ersten (oder auch der zweiten) Reifeteilung wurden die Chromosomen (oder Chromatiden) nicht getrennt. Es entstanden zwei leere Eizellen und zwei mit einem doppelten Chromosomensatz. Alleine können die sich nicht zu einem Embryo entwickeln. Sie müssen dazu von einem befruchtenden Spermium angeregt werden. Es entsteht ein Embryo mit drei Chromosomensätzen.
In den meisten Fällen sind solche „triploiden“ Embryonen nicht lebensfähig – in machen aber schon.
Beim Marmorkrebs muss eine zusätzliche Mutation aufgetreten sein, sodass sich die Embryonen auch ohne
den Befruchtungsreiz entwickeln konnten.

Mutationen entstehen immer. Jeder Mensch hat schätzungsweise etwa 30 Mutationen, die nicht von Mutter oder Vater geerbt wurden, sondern neu entstanden sind. In den allermeisten Fällen sind die unauffällig und haben keine besondere Auswirkungen. Sehr viele Mutationen sind auch tödlich. Aber auch sie bleiben meist unauffällig, weil sie, oft unbemerkt von der Mutter, in sehr frühen Embryonalstadien bereits abgehen. Manche Schätzungen nehmen an, dass etwa 50% der befruchteten Eizellen davon betroffen sind.

Jungfernzeugung ist nicht ungewöhnlich: es gibt viele Tiere, die sich parthenogenetisch vermehren können. Dazu gehören z.B. Blattläuse, manche Fische, Schnecken u.a. Ein Vorteil ist, dass die aufwändige und energiezehrende Partnersuche entfällt. Ein Nachteil ist, dass die genetische Rekombination, die Neukombination der Merkmale beider Eltern, entfällt. Dadurch entsteht üblicherweise eine genetische Verarmung und eine schlechtere Anpassung an veränderte Umweltbedingungen. Parthenogenese ist eigentlich ein Extremfall von Inzucht. Im Gegensatz zu den Geparden kommen aber einige Tiere damit klar. Tatsächlich stellte sich heraus, dass alle Marmorkrebse weltweit Klone sind, die sich genetisch kaum unterscheiden. Wie schaffen sie es dann, sich in so unterschiedlichen Biotopen wie deutschen Badeseen und Reisfeldern auf Madagaskar anzupassen und massenhaft zu verbreiten? Frank Lyko, Epigenetiker am Deutschen Krebsforschungsinstitut in Heidelberg, vermutet, dass eine hohe epigenetische Variabilität dafür verantwortlich ist: ohne ihre genetische Information direkt zu verändern, haben die Marmorkrebsinnen „gelernt“ einzelne Gene durch biochemische Schalter stärker oder schwächer zu schalten und sich so der Umwelt anzupassen.

Ob das Leben der Krebse durch den Verzicht auf Männer harmonischer und friedlicher geworden ist, ist unbekannt.
Klar ist aber: die mutierten Marmorkrebse sind, nicht nur in Deutschland, eine Bedrohung für die heimischen Tierwelt, zu der sie in direkter Nahrungskonkurrenz stehen.
Und klar ist auch: Evolution passiert. Auch heute. Und manchmal mit dramatischen Folgen.

Titelbild: Von Lorenz Seebauer – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=117776951
Autor: Wolfgang Nellen, BioWissKomm